Überall ist Wunderland, Folge 12
Mir reicht’s. Jetzt lasse ich die Glöckchen klingeln.
Kinder, Corona, Klimakrise – das kann doch nicht mein Leben sein!
Ich starte umgehend das Weihnachts-Hardcoreprogramm: Bienenwachskerzen, Oratorium und Zucker. Dominosteine, Marzipankugeln, Vanillekipferl – ich bin zu Großem in der Lage. Wenn nichts Süßes mehr geht: Riesengarnelen in Knoblauchsahne küsst Brot von glücklichem Sauerteig.
Diese Trennkost halte ich mindestens eine Woche durch. Zum Abschluss wird eine Rakete zum Mond geschossen, mit den drei Königen drauf. Dann beginnt schon die Fastenzeit, radikaler Entzug und täglich vier Runden um die Alster, herrlich! Ich schätze am 24.12. bin ich schon beim Osterfest angekommen. Narzissen, Eier, Spazieren mit Goethe. Pfingsten fällt dieses Jahr auf Neujahr, endlich wird das mal gebührend befeuert, äh gefeiert! Und dann habe ich auch schon Geburtstag und wünsche mir einen liebevoll gebastelten Adventskalender von der ganzen Familie. Und Weihnachten beginnt Ende Januar von vorn.
Ich feiere den Exzess. Alternative Ideen, wie man durch diese Zeit kommt, habe ich ausprobiert, aber die maßvolle Mitte macht für mich einfach keinen Sinn mehr.
Aktives Zuhören: Masochismus.
Autogenes Training: Innen sieht’s aus wie Draußen.
Achtsamkeit: „Süß“, knirschen die Wölfe und zerfetzen das Lämmlein.
Und die Strategien der Mitmenschen? Manche rüsten auf und drohen wutschnaubend in Richtung der Gegner – wo auch immer sie diese vermuten. Viele wollen alles richtig machen und wühlen sich verunsichert durch das wandelbare Regelwerk. Und nicht wenige kämpfen intensiv ums Überleben. Wir haben keinen Krieg, aber es klingt so.
Während ich das hier schreibe, stehe ich im Bücherregal. Der Laptop ist eingeklemmt zwischen „Männerabend“ und „Unterleuten“. Auf meinem Rücken schläft Kind 2 in der Trage – und sollte ich es wagen eine andere Position als die Stehende einzunehmen, ist es aus mit MeTime und diesem Text.
Es geht mir gut. Ich liebe, und wie!
Mir fehlt eigentlich nur eines: Mehr Licht.
„Damit bin ich doch in guter Gesellschaft“, säusele ich beruhigend und zünde zu Weihnachtsklängen die Tannenbaumkerzen an. „Goethe ging es bis zuletzt genauso.“ Dann greife ich verträumt in den Putzeimer mit Vanillekipferln. Schon fast leer, morgen früh backe ich neue. Kind 2 rülpst zärtlich in meinen Nacken. Alles wird gut.
Ich wälze nicht schwere Probleme
und spreche nicht über die Zeit.
Ich weiß nicht, wohin ich dann käme,
ich weiß nur, ich käme nicht weit.
Heinz Erhardt