Wir sitzen an ihrem Bett auf der Palliativ-Station, ihr Vater und ich, wenige Tage vor Weihnachten. Es ist mild draußen. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer letzten Reise, und er erinnert sich, formt und formuliert die inneren Bilder aus gemeinsam geteilter Lebenszeit. Das Weihnachtsfest haben wir immer geliebt, sagt er. Und dann wird es richtig laut in der Begegnung an ihrem Bett. 'Rocking around the christmas tree' ist einer ihrer Lieblingssongs. Der Vater singt mit kräftiger Stimme zu meiner Version mit dem Akkordeon, manchmal gibt`s Applaus von unterschiedlichen Ecken der Station. Es macht ein gutes Gefühl, etwas für die sterbende Tochter tun zu können, etwas zu tun zu haben, was innigste Nähe und Verbindung schafft. Es macht ein gutes Gefühl, dass andere Personen auf der Palliativ-Station dies wahr- nehmen und über das Hören des Songs auf ihre Weise und mit ihren Emotionen dem Vater und der Tochter Wertschät- zung übermitteln. Zweieinhalb Jahre später sitze ich an seinem Bett auf der Palliativ-Station. Es ist Mai und mehr als mild draußen. Es fühle sich mehr als komisch an wieder hier zu sein, sagt er, und gleichzeitig habe er gewusst, dass er nirgends sonst so gut aufgehoben sei. Different year, different day, same great shit. Fuck cancer. 26 Grad draußen und bei uns drinnen wird es laut: Rocking around the christmas tree. Unter Tränen lacht er und meint:„Unter all dem Schmerz gibt es doch immer wahnsinnig schöne Zufälle im Leben: Einer davon ist, dass ich Ihnen wieder begegnet bin, und wir hier jetzt singen – Weihnachtslieder im Sommer." Und ich denke: Danke für die wertvolle, lebenstaugliche Erinnerung daran, dass über- all da, wo Schatten ist, auch Licht sein muss. Dass da, wo Tränen sind, auch Lachen ist. Und laute Musik. Lieder sind vergessene Schätze unserer Gemeinschaft, unseres Zusammenlebens. Ihre Bedeutung ist so vielschichtig wie wir selbst, und diese Vielschichtigkeit ist uns im Alltag nur selten bewusst. In der palliativen Begleitung kann es immer wieder wertvoll sein, diese Vielschichtigkeit in all ihre Facetten ins Bewusstsein zu heben. Und mit ihnen die Symbolkraft und die Metaphern der Liedtexte. In den Liedtexten sind – ähnlich wie in Märchenerzählungen – existenzielle Themen des Menschseins eincodiert. Lieder transportieren zwischenmenschliche Atmosphären auf vielschichtige Art und Weise. So geht es in den meisten Liedern um die Liebe, aber auch um Heimat, Identität, Abschied, Versöhnung, Aufbruch ins Unbekannte, Tod und Trauer – alles Themen, die Menschen am Ende ihres Lebens zutiefst beschäftigen. Lieder sind Begleiter beim Abschied und bilden gleichzeitig eine Brücke zum Leben. Dort, wo es uns gelingt, diese Brücke wachsen zu lassen, können Lieder zu einem Anker der Sicherheit werden. Lieder helfen trauern. Sie tun dies in all ihren Facetten in der Vielschichtigkeit eines jeden Trauerprozesses: Sie halten Angst, Ambivalenz, Aggression, Verwirrung, Hoff- nung, Lachen, Weinen, Straucheln aus – was immer an Emotionen da ist, die Lieder sind es auch. Und wenn es laut werden soll, dann „darf“ es auch das. Die Musiktherapeutin Monika Baumann sagt dazu: „Trauern ist eine Kunst und braucht künstlerischen Ausdruck im weitesten Sinne. Zum Trauern brauchen wir innere und äußere Räume, in denen wir uns unserer Liebe bewusst werden zu dem, was wir betrauern". Es ist an uns, offen für die Symbole unseres Lebens-Soundtracks zu sein, und sie möglicherweise als Steine einer Brücke, als Hilfe zum Trauern für Zugehörige zu verstehen. Danke für die wertvolle, lebenstaugliche Erinnerung daran, dass überall da, wo Schatten ist, auch Licht sein muss. Dass da, wo Tränen sind, auch Lachen ist. Und laute Musik. Musik: "Back and Forth" by Lane King @artlist.io "Wonderful Christmas" by Wolf Samuels @artlist.io "Telling Stories" by Borrtex @artlist.io