• Für die Statik

  • Mar 31 2020
  • Length: 5 mins
  • Podcast

  • Summary

  • „Ach, Musik", sagt er. Vorsichtig lehne ich nach dem Anklop- fen und ebenso vorsichtigem Betreten seines Zimmers meine Gitarre an die Wand und sorge behutsam für ein stimmiges akustisches Milieu – konkret hier: Ruhe, Stille. Erstens, weil keine professionell ausgebildete Musiktherapeutin der Welt (die männlichen Kollegen verstehen sich bitte ebenfalls gemeint) und niemand, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, irgendwie, irgendwo und sofort und einfach so drauflos klampft oder gongt und zweitens, weil jede professionell ausgebildete MusiktherapeutIn und jeder, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, weiß, dass Klänge bei Menschen mit Glioblastom (Hirntumor) die Krampfanfallneigung verstärken können. Er nestelt an seiner Decke, seine kraftvollen Hände arbeiten in der Luft. In unsere klangvolle Stille hinein stellt er, der engagierte Bauingenieur, fest: „Der Hohlraum hat innen zu viel Druck". „Ich vermute, das ist auf Dauer nicht gut, wenn der Hohlraum innen zu viel Druck hat", sage ich. „Das kannste laut sagen", sagt er. „Da kriegste Probleme mit der gesamten Statik.“ „Was machen wir nun?", frage ich. „Drüber reden", sagt er. Und dann er- zählt er: in klaren Worten und deutlichen Sätzen von den Plänen, die er noch hatte. Davon, wie ihn der Krebs in Null- kommanix von den Füßen gewischt hat. Ihn, den Mathe- matiker und Macher. Der nun redet, um die Statik zu halten und den Druck auszugleichen. Seine Stimme wird leiser, sei- ne Hände ruhiger. Vorsichtig nehme ich die Gitarre zur Hand und spiele leise, klare, stützende, sich stetig wieder- holende Akkorde. Für die Statik. Er schläft entspannt ein, mit ruhiger, gleichmäßiger Atmung. Unser Gehirn versteht Musik ähnlich wie Sprache – nämlich als Bedeutung tragende Signale. Diese Signale kommen an. Sie werden hör- und erlebbar in unserem ureigensten Ausdrucks- instrument: unserer Stimme. Worte und Musik gehören un- trennbar zusammen. Sie sind eins. Wenn wir über den Einsatz von Musik im Kontext von Palliative Care sprechen, tun wir gut daran, uns bewusst zu machen, dass Musik weit vor dem Einsatz von Klangschalen, dem IPod oder der Frage „Welches Lied singen wir heute?“ beginnt. Eines meiner größten Geschenke aus den Begegnungen mit Menschen am Lebensende ist das Geschenk der Stille. Ja, Stille kann laut sein und damit gefühlt kaum aushaltbar. Stille kann verunsichern. Doch Stille birgt auch viele Antworten. So wie jede Musik Pausen hat und Pausen braucht, um weiterzufließen, so ist das Teilen von Stille ein Signal, ein Auftakt für einen neuen Klang, für eine neue Begegnung. Mögt ihr diese Signale wahrnehmen und erleben, mögt ihr den Sinn hören hinter dem, was Menschen Euch sagen und vor allem der Art, wie sie etwas sagen – und seien diese Menschen 'vermeintlich' noch so verwirrt. Mögt ihr laute Stille und beredtes Schweigen als ein Geschenk erleben. Alles hat Sinn. Stille und Klang. Worte und Musik. Geben wir ihnen Raum und geben wir ihnen die Bedeutung, die sie verdienen. Für die Statik. Musik: "Back and Forth" by Lane King @Artlist.io "I will" by Josh Leake @Artlist.io
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