Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Ihre Familie und Freunde wissen es auch. Schwer aushaltbar ist sie dennoch, die Situation und manchmal auch die Begegnung mit ihr. Alle möchten alles richtig machen, gerade, weil sie nahezu ausschließlich mit den Augen kommunizieren kann. Sie versucht zu sprechen, ist aber aufgrund der Lähmungen durch das ALS kaum zu verstehen. Ihre Wünsche sprichwörtlich von den Augen abzulesen – das fällt uns allen gar nicht so leicht. Manchmal denke ich, sie möchte am liebsten ihre Ruhe haben – nicht dauernd ein Hörspiel hören, nicht immer zusehen, wie der Enkel der Freundin durch das Zimmer turnt. Und dann – dann denke ich genau das Gegenteil. Auch ich bin mittendrin in den Ambivalenzen der Familie, in ihrer ureigenen inneren Zerrissenheit mit allen Emotionen. Und mit Musik und ohne. Ich spüre meine Anspannung und auch, wie intensiv ich auf ihre Mimik achte, um kleinste Verände- rungen gut wahrnehmen zu können. Manchmal ist es einfach. Da sind ruhige Atmung und funkelnde Augen am Start, wenn ihr Mann von seiner Zeit als Förster und Jäger erzählt, alle im Raum Geschichten voll Jägerlatein auspacken und sämtliche Lieder zu dem Thema, die wir kennen, den Raum füllen. Manchmal ist es schwer, wenn alle Unsicherheiten, ihre und unsere, im Raum gefühlt Überhand nehmen oder sie etwas sagen möchte, was wir nicht verstehen. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor ihrer Geduld mit uns. Und dann ist er da, der Tag, an dem deutlich wird, dass sie balder als bald sterben wird. Ihre Töchter sind da, stehen um ihr Bett, rahmen sie ein und alle drei – sie in ihrem Bett plus die jungen, erwachsenen Kinder – sehen strahlend schön aus. Eine andächtige Stille breitet sich aus. „Pfadfinder“ sagt sie leise, kaum hörbar. Ja – Pfadfinder, das waren sie alle. Die Töchter erzählen: Von dreckigen Hosen, die Mama kurzerhand nach den Tagen im Wald erst einmal mit dem Gartenschlauch ab- gespritzt hat. Vom Zeltlager, vom Singen am Lagerfeuer, von der besonderen Atmosphäre und was sie in ihrer Jugendzeit bei und durch die Pfadfinder gelernt haben. Ein Lächeln ist zu erkennen auf ihrem Gesicht, aber auch Unruhe. Sie möchte etwas sagen. „Pfadfinder-Lied“, ergänzt sie. „Aaaah, ich weiß“, ruft die jüngste Tochter und fragt,„‚Nehmt Abschied, Brüder!‘ meinst Du das?“ Sie blinzelt mit den Augen. Ja. Wir singen. Die andächtige Stille wandelt sich in einen andächtigen Gesang. Glücklich und entspannt liegt sie da. Atmet seltener, jedoch nicht angestrengt. Die Mädchen erzählen, dass dieses Lied immer das letzte Lied vor dem Abschied im Zeltlager gewesen sei. Und dass noch etwas fehle. Ein Spruch, der zu diesem Lied und zu den Pfadfindern gehöre: „Wir lösen das Band unserer Hände, jedoch niemals das unserer Herzen.“ Als Gegenpol zu den Atmosphären am Bett, den erlebten Am- bivalenzen aller, als Gegenpol zum Erleben von Hilflosigkeit, Ohnmacht, unserer Angst vor Stille oder der Angst vor Über- forderung gestaltet sie ihren Abschied. Sie gestaltet ihn mit einem für alle vertrauten Ritual und im Vertrauen darauf, dass dieses Ritual von allen erkannt wird. Sie gestaltet ihn mit ihren Möglichkeiten. Sie gestaltet ihn mit ihren Möglichkeiten und das Gestalten ihres Abschieds ist ihr wichtig. Wie hoch die Bedeutung dieses Aktes der Autonomie für sie ist, können wir nur erahnen. For auld lang syne - wir lösen das Band unserer Hände, doch niemals das unserer Herzen.